Liedtafeln

Von Gerda Meyer zu Ermgassen
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In der französisch-reformierten Kirche von Dornholzhausen sind heute noch zwei alte Liedtafeln in Benutzung. Auf einer steht PSAUME, auf der anderen CANTIQUE – Psalm und Lied. Wahrscheinlich weiß heute kein Kirchenbesucher, selbst wenn er die Wörter übersetzen kann, was es mit diesen Aufschriften auf sich hat.
Die Erklärung findet sich bei Louis Achard, Die französisch-reformierte Gemeinde zu Homburg v. d. Höhe, erschienen 1912. Achard berichtet, dass man in Homburg im Jahre 1747 die „Cantiques de Pictet“ eingeführt habe. Wörtlich heißt es: „Im Jahre 1747 werden die Cantiques de Pictet beim Kirchengesang eingeführt, da die bisher gebrauchten Psaumes de David sich nicht direkt auf christliche Tatsachen beziehen, sondern nur typisch oder prophetisch zu verstehen seien, und da die wenigsten Gemeindemitglieder gebildet genug seien, um diesen Sinn zu begreifen. Bei der Einführung der Cantiques werden für Bedürftige solche gratis aus der Kirchenkasse beschafft. Die Einführung empfiehlt sich dadurch, dass diese Gesangbücher in der ganzen französisch-reformierten Schweiz im Gebrauch sind.“

Hier tauchen die beiden Begriffe zusammen auf. Sie beziehen sich auf den Gemeindegesang und auf die Unterscheidung zwischen den üblicherweise gesungenen Psalmen und den neu eingeführten Liedern von Pictet.

Der Gemeindegesang hat in den Kirchen der Reformation eine lange Tradition. Die Reformatoren hatten die Gottesdienstordnung neu gestaltet und in Abgrenzung zur lateinischen Messliturgie der katholischen Kirche die Volkssprache in den Gottesdienst eingeführt. Dieser wurde fortan in deutscher Sprache gefeiert und darüber hinaus wurde auch die Gemeinde mit Gesang stärker am Gottesdienst beteiligt. Der Gemeindegesang wurde wie Verkündigung und Gebet gleichberechtigter Bestandteil der Gottesdienstordnung. Martin Luther hat einige altkirchliche lateinische Hymnen übernommen und übersetzt, vor allem aber hat er selbst Lieder gedichtet und vertont. Sie gehören noch heute zum bekanntesten evangelischen Liedgut.

Anders die calvinistische Reformation. Im reformierten Gottesdienst gibt es keine Liturgie wie in der lutherischen Kirche. Im Mittelpunkt steht die Verkündigung, d. h. die Predigt. Aber es gibt auch hier die Beteiligung der Gemeinde am Gottesdienst durch den gemeinsamen Gesang. Dazu hat man biblische Texte, vor allem aber die Psalmen umgedichtet und in Liedform gebracht und sich dabei möglichst nah an die Originaltexte gehalten. Schon Calvin selbst hat sich um die ersten Liedausgaben bemüht. 1562 erscheint der komplette Psalter. Unter dem sog. „Genfer Psalter“ versteht man frühe Gesangbücher des 16. Jahrhunderts in französischer Sprache. Er hat im gesamten reformierten Raum große Bedeutung erlangt. Die Tradition des Psalmsingens wurde, wie der Bericht von Achard beweist, lange gepflegt, – und es gibt sie bis heute in den reformierten Kirchen in der Schweiz und in Frankreich.

Angemerkt sei hier auch, dass eine deutsche Übersetzung des Genfer Psalters von 1573 bis zum Ende des 18. Jahrhunderts das maßgebliche Gesangbuch auch der deutschsprachigen reformierten Gemeinden blieb.

Was sind aber nun diese „Cantiques de Pictet“, die in der französisch-reformierten Gemeinde von Homburg eingeführt wurden?
Links und recht der Kanzel die beiden LiedtafelnLinks und recht der Kanzel die beiden Liedtafeln
Bénédict Pictet (1655-1724) war Professor der Theologie und zugleich Pfarrer in Genf. Er war ein sehr bekannter und erfolgreicher Theologe seiner Zeit, der bereits mit 20 Jahren seine akademische Ausbildung beendet hatte. Sein Hauptwerk ist eine sechs Bände umfassende Gesamtdarstellung der Theologie in zwei Sprachen. Pictet beteiligte sich auch an Bemühungen der Wiedervereinigung aller reformatorischen Kirchen, und verwies in einer Schrift auf deren grundsätzliche Einheit: De consensu ac Dissensu inter Reformatos et Augustanae Confessiones fratres Dissertatio (1697). Als Pfarrer und Theologe bemühte er sich um die Reform und Modernisierung des Gottesdienstes. Er hat die frühen Psalmenübersetzungen von Calvin und dessen Zeitgenossen neu überarbeitet und in den Gottesdienst eingeführt (1698). Und er regte an, dass – wie in der lutherischen Kirche – auch Lieder, die einen neutestamentlichen Bezug haben, für den Gemeindegesang aufgenommen werden sollten. Daraufhin wurde er mit der Abfassung von solchen Liedern beauftragt. Diesem Auftrag kam er innerhalb kurzer Zeit nach, das Ergebnis sind Cantiques sacrez pour les principales solemnitez des Chrétiens (1705). Von 53 vorgelegten Liedern wurden 12 als Kirchenlieder übernommen, die dann im französischen Sprachraum erfolgreich aufgenommen wurden: die „Cantiques de Pictet“.

Pfarrer der Homburger Gemeinde, der die Cantiques eingeführt hat, war seit 1745 Jean Christophe Roques. Seine Familie stammte aus Südfrankreich, der Vater war Pfarrer der französisch-reformierten Gemeinde in Basel. Roques war in Basel geboren und hatte dort studiert. Er war also vertraut mit der Gottesdienstordnung in den reformierten Gemeinden in der Schweiz. Und nach deren Vorbild hat er, wie Achard berichtet, 1747 die Cantiques de Pictet“ in Homburg eingeführt.

Für die Homburger französisch-reformierte Gemeinde war dies eine Neuerung. Dort sang man hinfort beim Gemeindegesang sowohl die Psalmen Davids als auch die Cantiques de Pictet. und dafür gab es offensichtlich getrennte Gesangbücher wie sie in der ganzen französisch-reformierten Schweiz im Gebrauch sind.

Soweit die Situation in Homburg, – doch kehren wir zurück zu Dornholzhausen. Da die Gemeinde von Dornholzhausen schon wenige Jahre nach ihrer Gründung in finanzielle Not geraten war, konnte sie keinen eigenen Pfarrer mehr unterhalten. Daher war sie 1715 einer Kirchen-Union mit der französischen Gemeinde in Homburg beigetreten, die erst 1765 engültig beendet werden konnte. Während dieses halben Jahrhunderts waren die Homburger (und teilweise auch die Friedrichsdorfer) Pfarrer auch für Dornholzhausen zuständig, so auch der Pfarrer Roques. Was liegt also näher als die Annahme, daß er die Cantiques de Pictet auch in Dornholzhausen eingeführt hat.

Auf diesem Hintergrund erklärt sich die Aufschrift auf den beiden Liedtafeln in der Waldenserkirche. Denn nachdem auch hier diese Cantiques eingeführt waren, war jetzt zwischen Psalm und Lied zu unterscheiden. Damit war eine entsprechende Beschriftung der Liedtafeln erforderlich geworden, und so zeigte man auf der einen Liedtafel PSAUME an und auf der anderen CANTIQUE.

Wie lange diese Unterscheidung bestanden hat, ist nicht bekannt. Es ist anzunehmen, dass spätestens mit dem Ende der französischsprachigen Gottesdienste sich auch der Gemeindegesang änderte und damit die Einführung neuer Gesangbücher erforderlich wurde. Da die Aufschriften auf den Liedtafeln nun offensichtlich keine Bedeutung mehr hatten – und das gilt auch für unsere Zeit – waren sie zwar abgenommen, aber aufbewahrt worden. Sie lagen in der Sakristei zwischen den Anstecknummern. Erst anlässlich des 250-jährigen Jubiläums, das die Waldensergemeinde 1949 feierte, als man sich auch auf die Geschichte der Gemeinde besann, wurden sie wieder angebracht, um auch im Kirchenraum an die reformierte Tradition zu erinnern.
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