Die Privilegien

von Birgitta Duvenbeck

Der Landgraf hat den neuen Siedlern in der „Déclaration en Faveur des Vaudois“ das Gründungsdokument für die Siedlung gegeben: in 35 Artikeln wird das Leben der Gemeinde und ihr Verhältnis zur Landesherrschaft genau festgelegt. Im Vergleich zu den anderen Untertanen erhielten die neuen Siedler einen großen Freiraum, der eine spezifische Entwicklung des Waldenserortes zuließ.

Die ersten Artikel beziehen sich auf die Religionsausübung: Die Siedler sollen völlig frei sein in der Ausübung ihrer Religion und nach ihrer Ordnung Pfarrer wählen können.

Die folgenden Artikel stecken den Rahmen für die politische Kommune, ein Dorf oder einen Marktflecken, ab: Es wird den Siedlern erlaubt, ein eigenes „Gericht“ zu wählen, bestehend aus Schultheiß und Schöffen. Der Landgraf behält sich nur die Bestätigung der Gewählten vor. Die Kompetenzen des „Gerichtes“ bedeuteten ein großes Maß an Selbständigkeit: Es war Verwaltungsorgan, hatte die öffentliche Ordnung mit Hilfe einer Polizei zu garantieren, Notare zu bestellen und war erste und alleinige Instanz in zivilrechtlichen Fällen mit einem Streitwertobjekt bis zu 50 fl.(fl. = Gulden).

Bei Fällen mit höheren Streitwertobjekten war das Gericht erste Instanz, aber es konnte Berufung beim fürstlichen Rat eingelegt werden. Somit blieb eine ganze Reihe zivilrechtlicher Fälle in der Entscheidung des örtlichen Gerichtes; 50 fl sind eine recht ansehnliche Summe, wenn man bedenkt, daß es Strumpfwirkerstühle im Wert von 25 fl gab(1719). Die Siedler hatten also das verbriefte Recht, vor ihr eigenes Gericht gestellt zu werden. Damit war vermieden, daß gewisse ablehnende Tendenzen von seiten der Deutschen gegenüber den Fremden zu Tragen kommen würden, und die Siedler waren vor einer durch Sprachschwierigkeiten bedingten ungünstigeren Verhandlungsposition geschützt.
Die Privilegien von 1699Die Privilegien von 1699
Die Strafgerichtsbarkeit übte der Landgraf größtenteils selber aus. Zwar mußte zunächst auch hierbei jeder Fall an das Ortsgericht gehen, aber ein Urteil konnte dieses nur bei Vergehen fällen, die mit einer Geldstrafe geahndet wurden. Dies waren im wesentlichen Vergehen, die die Gemeinde direkt gefährdeten oder das Gemeindeleben beeinträchtigten, wie z.B. das Trocknen von Hanf am Ofen oder Dachdecken mit Stroh oder Beschädigungen von Wegen durch Unachtsamkeit; Verleumdung, Beschimpfung oder unchristliche Lebensführung. Größere Strafsachen, wie nächtlicher Einbruch, Raub, Hexerei, Ehebruch, Ungehorsam gegen fürstliche Beamte, Wilderei, Betrug oder Körperverletzung jeglicher Art mußten vom Ortsgericht an den Landgrafen übergeben werden. Mit einer Sonderregelung bedacht waren Streitfälle zwischen Waldensern und deutschen Untertanen. In solchen Fällen urteilte in erster Instanz ein Gericht aus zwei Waldensern und zwei Deutschen, vom fürstlichen Rat bestellt.
Schultheißen und Schöffen wurden von der Gemeinde bezahlt, allerdings nicht mit festem Gehalt, sondern die jeweilige Leistung wurde entlohnt. Nebenbei hatten sie Landwirtschaft oder betrieben ein Handwerk wie jeder andere Dorfbewohner auch, allerdings genoß der Schultheiß die Vergünstigung, zwei Kühe und zwei Schweine auf die Weide treiben zu dürfen, ohne für den Hirten bezahlen zu müssen. Eine Aufstellung aus dem Jahre 1767 über das, was der Schultheiß für seine Arbeit fordern konnte, besagt, daß er für einen Tag, den er sich im Dienst der Gemeinde außerhalb des Ortes aufhalten mußte, 30 kr erhielt. Das gilt auch für die Reise zum Märkerding nach Ursel. Die Schöffen erhielten 20 kr. Die Durchführung der Wahl des neuen Schultheißen und die Rechnungslegung wurden ebenfalls mit 30 kr honoriert. Aus einer Quelle von 1769 geht hervor, daß seit Gründung des Ortes der Schultheiß für Gemeindegänge innerhalb des Ortes, sofern er dazu einen Tag brauchte, 20 kr erhielt, die Schöffen 15 kr. Für das Jahr 1767 ergibt sich aus der Gemeinderechnung für den Schultheißen ein Einkommen aus solchen Diensten von ca. 7 fl 15 kr. (Anhaltspunkt für die Kaufkraft des Geldes: aus einer Rechnung über die Verköstigung der Musiker, die 1768 in der Kirche spielten: 5 Pfd. Schweinefleisch 6 kr; 12 Pfd. Braten 12 kr; Weißbrot zur Suppe 4 kr; Essig und Olivenöl für Braten und Salat [10 Personen] 15 kr; Gemüse 8kr; 12 Krüge Bier und Branntwein 1 fl. – 1 fl= 60 kr,)

In Artikel 15 der Privilegien garantierte der Landgraf den Siedlern für immer die persönliche Freiheit; sie sollten niemals Leibeigene werden können.

Was die wirtschaftlichen Grundlagen der neuen Siedlung angeht, bestimmte der Landgraf folgendes:

Die Siedler erhielten den Reisberg, das Terrain des wüstgefallenen Dornholzhausens, zu eigen (Art.26). Weiterhin erhielten die Siedler Baumaterial für öffentliche und private Bauten zugesagt und Holz zum Heizen und für die Wagnerei. In der Zeit bis 1706, also während der ersten sechs Jahre, stellte die Gemeinde die ersten Siedler frei von jeglichen Abgaben und Fronden. Nach Ablauf dieser Zeit mußten sie wie alle anderen Untertanen Abgaben leisten: für Grund und Boden jährlich 340 fl. Die Summe war gleichmäßig auf die Gemeindemitglieder zu verteilen, wobei das Pfarr- und das Kirchengut für immer frei sein sollten. Während der Zeit der Freijahre schenkte der Landgraf der Gemeinde auch den Zehnten, und für die Zeit danach versprach er, ihn so gering wie möglich zu halten und vielleicht einen Teil davon zur Unterstützung kirchlicher Bediensteter und zur Armenpflege im Ort zu belassen. Bis 1706 galten auch besondere Vergünstigungen und Erleichterungen für Gewerbetreibende: Freier Handel, zollfreies Ein- und Ausführen von Waren, das Halten von Läden ohne vorherige Genehmigung; Manufakturen, „seien es Seiden-, Leinen-, Woll-, Baumwollmanufakturen“, sollten frei errichtet und jedes ehrbare Handwerk betrieben werden dürfen. Ausdrücklich wurde der Ort vom Zunftzwang ausgenommen.

Der Landgraf verzichtete auf jegliche Aufsichts- und Eingriffsrechte bezüglich der gewerblichen Wirtschaft des Ortes. Der Ort selbst hatte die Gewerbeaufsicht auszuführen.

Diese Privilegien wurden bis 1866 von jedem neuen Landgraf bestätigt, so auch die Preußen.
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